„Sind
wir denn bald da?“
Die
Frage riss Robert aus seinen Gedanken und ließ ihn wieder im Wagen
ankommen. Gerade noch hatte er darüber nachgedacht, dass er für
sein Alter gar nicht so schlecht in Form war. Klar, es zeigte sich
ein kleiner Bauchansatz und seine Haare waren schon ein wenig grau,
aber das war normal in seiner Familie. Deshalb trug er sie ein wenig
zu einem Irokesen gegelt, denn zu alt wollte er auch nicht wirken.
Der 2-Wochen-Hipster-Bart, den er schon vor den Hipstern getragen
hatte, tat da sein übriges nicht wie über 30 zu wirken. Und es
waren schließlich noch zwei Monate bis er das war.
Der
Wagen, ein großer Ford Krankentransportwagen, war fast schon ein
rollendes Krankenhaus. Aber nur fast, denn anders als im Krankenhaus
war hier alles auf Luxus ausgelegt. Die Amerikaner hier in
Kalifornien, im Westen der USA, waren besessen vom Luxus und deshalb
war Robert vor drei Monaten auch aus Deutschland hierher gekommen.
Noch fehlten ihm die Lizenzen selbst zu fahren, aber selbst der
Verdienst als Beifahrer war unschlagbar.
Die
Landschaft außerhalb des Ford war trist. Sandig, karg und viel zu
warm für Roberts Verhältnisse. Ob er sich wohl je an das Klima hier
gewöhnen konnte? Er drehte sich vom Fenster weg und sah durch die
kleine Scheibe nach vorn zu seinem Fahrer Sam. Auf dem Navi waren es
nur noch ein paar Meilen, ungefähr noch 30 Minuten Fahrtzeit. Viel
länger würde er es auch nicht mehr aushalten.
Sie
kamen gerade vom Orthopäden, weil sich die Patientin, stolze 80
Jahre alt, ihr Knie verdreht hatte und in Folge dessen vor ein paar
Wochen operiert worden war. Das Knie nun schon fast verheilt, konnte sie trotzdem den ganzen Tag nicht aufhören zu Ächzen und Keuchen.
„Wir
sind bald da, Mrs. Miller.“, sagte er mehr zu sich selbst und
schaute wieder aus dem Fenster.
„Das
ist gut, irgendwie fühle ich mich gerade sehr kaputt und mir ist
ganz heiß.“ Robert drehte die Klimaanlage noch weiter herunter. Er
selbst fror sogar schon ein wenig denn er hatte nur ein Poloshirt an,
aber Mrs. Miller schwitzte von Minute zu Minute mehr.
„Junge,
hätten Sie wohl ein Taschentuch für mich?“, murmelte sie und
griff sich an den Mund.
Robert
wusste was jetzt kam. In den letzten paar Wochen war ihm das einige
Male passiert. Wenn es den Leuten schlecht ging wollten sie die Zähne
raus nehmen. Er hatte daher schon nach kurzer Zeit dafür gesorgt,
dass sie immer genug Nierenschalen an Board hatten. Er nahm eine aus
dem Schrank neben sich und legte ein Taschentuch hinein. Mrs. Miller
nahm sich ihre Prothese heraus und legte sie in die Schale. Die
nächsten 15 Minuten verbrachte Mrs. Miller damit weiter zu Ächzen,
zu Keuchen und zu Schwitzen.
Robert
musste daran denken, dass der Orthopäde sich schon über Mrs.
Millers Verhalten gewundert hatte. Bei allen vorherigen Terminen war
sie immer sehr redselig gewesen und hatte dutzende und aber-dutzende
Fragen gestellt, hatte alles kommentiert und sich beschwert, wenn der
Doktor zu langsam arbeitete. An diesem Tag jedoch war sie merkwürdig
still und selbst als der Doktor ihr beim Fäden ziehen ein wenig zu
stark am Knie gedrückt hatte und sie dank der nicht mehr ganz so
widerstandsfähigen Haut deswegen einen blauen Fleck davon trug, war
sie ruhig geblieben. Das war mehr als seltsam und daher wurde noch
vor Ort ihr Blutdruck kontrolliert, welcher zwar ein wenig flach aber
nicht besorgniserregend war. Robert hoffte, dass sie sich nicht auch
diesen merkwürdigen Virus eingefangen hatte, der überall
grassierte. Drei dicke rote Kreuze würde er machen, wenn die Fahrt
endlich vorbei war.
„Rob?“,
schrie Sam von vorne. Sam, ein typischer Surferboy mit blonden Haaren
und blauen Augen, war froh gewesen, dass er Robert an Board hatte,
denn er selbst war nicht so redselig wie er und daher ergänzten sie
sich perfekt. Und als Sohn des Chefs hatte er ein Mitspracherecht,
was die Teams anging. Er fuhr zwar auch gern mit den anderen aber mit
Robert hatte er immer etwas zu erzählen, da auch Sam in Deutschland
aufgewachsen war bevor sein Vater hier die Firma gegründet hatte.
Sie unterhielten sich jedoch nie wenn Robert hinten beim Patienten
saß, dass fanden sie beide äußerst unhöflich. Daher musste es
etwas sehr dringendes sein, dass Sam Robert sagen wollte.
„Was
gibt’s?“
„Zieh
dir das mal rein.“, rief Sam und drehte das Radio lauter.
...wichtiger,
dass Sie sich schützen. Nutzen sie Desinfektionsmittel nach jedem
körperlichen Kontakt. Waschen sie sich gründlichst die Hände, so
oft sie können und meiden sie Menschenmengen. Die Gesundheitsbehörde
rät auch, sich ab morgen impfen zu lassen. Der bestellte Impfstoff
aus Frankreich würde morgen überall ausgeliefert werden. Und nun
zum Wetter...
„Die
haben Stufe 2 ausgerufen. Das will schon was heißen.“
„Ja,
das ist ja schön und gut Sam, aber vor ein paar Jahren war es noch
Vogelgrippe, Maul- und Klauenseuche oder EHEC. Und bisher hat sich
alles wieder schneller normalisiert als das man auch nur husten
konnte.“, versuchte Robert Sam zu beschwichtigen.
„Ich
meine ja nur, dass es bisher noch nie dazu gekommen ist, dass man
sich impfen lassen sollte!“
„Ach,
hinterher werden sich nur alle wieder beschweren, dass es zu viel
Impfstoff gab.“
Sie
fuhren ein paar Minuten schweigend weiter und Robert beobachtete Mrs.
Miller, die immer schlapper wurde.
Plötzlich
machte der Wagen einen harten Schlenker.
„Scheiße,
das war knapp.“ Sam musste irgendeinem Tier ausgewichen sein, denn
der Transporter neigte sich stark zur Seite und die Bremsen
quietschten.
„Sam?
Alles in Ordnung?“, Robert drehte sich um und sah auf die Straße.
Dort liefen keine Tiere sondern Menschen über den Highway und Sam
tat sein Bestes ihnen auszuweichen. Sie schlurften langsam über den
Highway und scherten sich nicht im geringsten um das Auto, welches
dort an ihnen vorbei raste. Nach ein paar Sekunden war alles wieder
vorbei und die Straße war frei.
„Scheiße
man. Jetzt hab ich mir auf die Zunge gebissen. Warum laufen die
einfach auf der Straße herum?“
„Keine
Ahnung, aber hast du gesehen wie die aussahen? Manche von denen waren
am Bluten, müssten wir nicht umkehren und wenigstens fragen was da
los war?“, rief Robert und schaute den Menschen durchs
Seitenfenster hinterher.
„Robert,
da liefen so viele Leute lang, glaubst du wirklich die hatten ein
Problem? Wahrscheinlich waren es irgendwelche verrückten Kunst- oder
Filmstudenten, die den Nervenkitzel ausreizen wollten, wenn echte
Autos an ihnen vorbei schießen.“
„Wenn
du das meinst.“, Robert drehte sich wieder zu Mrs. Miller um. Er
hatte sie in der ganzen Aufregung ganz vergessen. Sie hatte den Kopf
auf die Seite gelegt, es sah fast so aus als würde sie schlafen.
„Mrs.
Miller? Wir sind jetzt gleich da.“, sie reagierte nicht. Daher
stupste er ihren Fuß mit seinem an, denn mit seinen Armen kam er
nicht an sie ran, aber auch das weckte sie nicht auf. Gerade als er
sich kurz abschnallen wollte rumpelte der Wagen stark und Robert sah,
dass sie über den Seitenstreifen fuhren.
„Sam?
Was zur Hölle tust du da?“, sie waren nicht langsamer geworden und
Robert konnte jetzt voller Schrecken sehen, dass sie auf einen Abhang
zurasten. Er drehte sich zu Mrs. Miller um und rief ihr zu, dass sie
sich festhalten sollte, doch sie reagierte immer noch nicht, dann
hatte er kurz das Gefühl sie würden fliegen. Der Aufprall war umso
härter und das Fahrzeug drehte sich mehrmals, bis es auf dem Kopf
und leicht schräg liegen blieb.
Ein
schmatzendes, saugendes Geräusch und eine Bewegung an seinem Fuß
holten Robert ins Bewusstsein zurück. Noch benebelt nahm er noch gar
nicht wahr, was um ihn herum geschah. Starke Kopfschmerzen hinderten
ihn daran die Augen zu öffnen. Das erste was er wirklich mit klarem
Verstand begriff, war die Tatsache, dass er Kopfüber im Gurt hing.
„Sam?
SA-AM?“,
er drehte sich um und schaute durch die Klappe zum Führerhaus. Sams
Kopf war widernatürlich verdreht und seine Augen schauten glasig
drein. Der Airbag war nicht ausgelöst und Sam wohl mehrfach mit dem
Kopf gegen die Innenwände geschleudert worden, denn überall an
seinem Kopf klebte Blut. Geschockt drehte sich Robert um, nicht nur
weil er den Anblick seines toten Partners nicht ertragen konnte,
sondern auch, weil das ziehende Geräusch an seinem Fuß stärker
wurde. Vielleicht versucht sich Mrs. Miller bemerkbar zu machen,
dachte er noch.
„Mrs.
Miller alles o.k. bei..? Oh, scheiße!“
Mrs.
Miller war anscheinend wieder zu Bewusstsein gekommen, hatte aber bei
dem Unfall wohl einiges abbekommen. Überall war Blut, so als wäre
ihre Haut aufgeplatzt und ihr linkes Bein, wegen dem sie noch für
ein paar Minuten beim Arzt waren hing schlaff zur Seite. Sie konnte
ihr Arme nicht bewegen, weil diese vom Gurt festgehalten wurden,
dennoch versuchte sie mit aller Gewalt Robert zu erreichen. Da sie
ihr Gebiss nicht mehr trug, stülpte sie ihren Mund komplett um den
Stiefel von Robert. Er merkte von innen, wie sie auf ihrem
Zahnfleisch versuchte den Stiefel durch zu beißen.
„Mrs.
Miller? Was zum Teufel machen sie da?“, er starrte sie an, weil er
immer noch nicht begriff was da vor sich ging. Sie erbrach Blut und
schüttelte sich im Sitz hin und her bis sie es schaffte ihren linken
Arm frei zu bekommen. Sie griff sofort nach Roberts Bein und riss am
Stiefel. Robert stemmte sich mit aller Gewalt dagegen aber Mrs.
Miller schien Bärenkräfte zu haben, denn sie zog sein Bein weiter
zu sich heran. Anscheinend hatte sie verstanden, dass sie nicht durch
den Stiefel kam, daher probierte sie es nun weiter oben am Knöchel,
doch sie hatte nicht damit gerechnet, dass Roberts Stiefel bis zur
Mitte der Wade gingen und sie deswegen auch hier nicht zubeißen
konnte. Rasend vor Wut zog sie immer wilder am Bein.
„Mrs.
Miller, wenn sie nicht sofort mein Bein loslassen muss ich ihnen weh
tun!“, schrie er sie an, doch sie dachte nicht im geringsten daran
es sein zu lassen. Es war als wäre es der einzige Sinn ihres Daseins
ihn zu beißen.
Er
versuchte sie zu treten, erwischte sie aber nicht stark genug. Wenn
sie weiter so zog, würde sie ihn bald trotz Gurt zu sich runter
gezogen haben. Er öffnete den Schrank neben sich und suchte nach
etwas, mit dem er sie zur Vernunft bringen konnte. Es befanden sich
Spritzen, Medikamente und Verbandszeug im oberen Fach, Tücher und
ein Defibrillator im unteren. Zuerst nahm er die Tücher und das
Verbandszeug und warf es ihr unkontrolliert zu, doch das schien sie
nicht zu stören. Es sorgte nur kurz dafür, dass sie ihn verwirrt
und mit glasigem Blick anstarrte. Für einen Moment war es still und
Robert hörte, dass das Radio noch lief.
..Und
nun ein absoluter Klassiker; Daryl Hall und
John Oates mit Maneater... Oh Oh, here she comes.. Watch out boy
she´ll chew you up.. Oh oh, here she comes.. She´s a maneater..
Vor
Ironie fing Robert an hysterisch zu lachen während Mrs. Miller
anfing an seinem Schuh zu kauen. Immer wieder ließ sie kurz ab um am
vordersten Punkt neu anzusetzen. Robert griff in den Schrank und
holte die stärksten Beruhigungsmittel heraus, er drückte ein paar
Pillen aus der Packung und nahm sie locker in die Hand. Er wartete
bis sie wieder absetzte und ließ dann mehrere Pillen in ihren Mund
fallen. Er hörte sie röcheln bevor sie die Pillen runter geschluckt
hatte.
Robert
wartete 15 Minuten, nach 10 hätte schon eine Wirkung einsetzen
müssen, aber es geschah überhaupt nichts. Es fehlte nicht mehr viel
bis er auf ihr landen würde. Er griff in den Schrank und holte ein
paar Spritzen heraus, es kostete ihn sehr viel Überwindung bis er
sie so über ihren Kopf hielt, dass sie sie genau ins Gesicht treffen
würden. Konnte er wirklich einem Menschen das antun? Immerhin war
sie fast 80 Jahre alt.
Plötzlich
hörte er Geräusche von der Fahrerkabine. Aus seiner jetzigen
Position konnte er kaum etwas sehen, aber wenn ihn seine Augen nicht
täuschten bewegte sich Sam wieder, was eigentlich unmöglich hätte
sein müssen.
„Sam?
SAM, hilf mir hier mal!“, schrie er ihn an, doch Sam antwortete
nicht. Stattdessen versuchte er seinen Kopf durch das kleine Fenster
zwischen den Kabinen zu schieben. Da sein Kopf einfach zu groß war
blieb er immer wieder hängen, dennoch probierte er es weiter und
rieb sich so die Haut und das Fleisch vom Kopf. Jetzt bekam Robert
endgültig Panik und versuchte sich entgegen aller Vernunft ab
zuschnallen, was ihn unweigerlich in die Richtung von Mrs. Miller
fallen lassen würde. Sam wurde nun immer stürmischer und der Wagen
begann an zu schaukeln.
„SAM!“
Als
Roberts Blick zur Seite ging, sah er, dass auch außerhalb des Wagens
jemand stand. Scheinbar hatte jemand den Unfall gesehen und wollte
ihnen nun helfen.
„Helfen
sie mir, ich bin hier drin eingesperrt! Öffnen sie einfach die Tür.“
Robert schrie sich die Seele aus dem Leib, aber niemand antwortete.
Er bekam ein ungutes Gefühl, dass sich zu bestätigen schien als
jemand von außen immer wieder mit dem Kopf vor das Fenster schlug.
Auch
Mrs. Miller wurde nun immer wilder und Robert entschied sich dazu ihr
ein für alle mal ein Ende zu setzen. Die Spritzen auf ihren Kopf
ausgerichtet, ging plötzlich ein Ruck durch das Fahrzeug und sie
rutschten einen halben Meter den Hang hinunter. Bevor er die Spritzen
los lassen konnte löste sich der Feuerlöscher unter seinem Sitz und
traf Mrs. Miller am Kopf.
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